BAD AACHEN 12-2024

20 | BAD AACHEN 12/24 STADTHISTORIE Am 19. Dezember 1949 stellte der Aachener Textilkaufmann Dr. Kurt Pfeiffer in einem Vortrag vor der Corona Legentium Aquensis seine Idee der Stiftung eines Aachener Europapreises vor, der später als Internationaler Karlspreis zu Aachen die europäische Einigung und den Frieden fördern sollte. Exakt 75 Jahre nach diesem wegweisenden Vorschlag wird ab diesem Monat das Karlspreisjubiläum begangen (s. Infokasten). Für BAD AACHEN sprach Bernd Mathieu mit Dr. Jürgen Linden, dem Vorsitzenden des Karlspreisdirektoriums seit 2010, über die Bedeutung der Auszeichnung, die Preisträger und die Geschichte der europäischen Integration von 1949 bis heute. BAD AACHEN: War die Situation Europas jemals so schwierig wie in der aktuellen Lage und welchen Einfluss hat das auf den Karlspreis? Dr. Jürgen Linden: Schon seit einigen Jahren ist es schwierig, Karlspreisträger auszuzeichnen, die eine positive Botschaft für die Zukunft vertreten. In den 1990er-Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es dagegen eine unglaubliche Euphorie. Man hatte das Gefühl, Europa könne als Kontinent nachhaltig zusammenwachsen. BAD AACHEN: Wann war der entscheidende Stimmungsumschwung? Linden: 2008 mit der internationalen Finanzkrise. Da spürte man eine gewisse Anfälligkeit, erst die Probleme der nationalen Budgets in Europa, dann später die Flüchtlingskrise, dann der Brexit, dann der Krieg gegen die Ukraine. Europa hat nach einer positiven Welle jetzt mit erheblichen eigenen Problemen zu kämpfen. Hinzu kommt der Anti-Europäismus in verschiedenen Ländern mit dem Rechtsruck etwa in Italien, Österreich, den Niederlanden, aber auch bei uns in den Landtagswahlen. BAD AACHEN: Es ist immer schlechter geworden, werden Sie als Vorsitzender des Direktoriums allmählich resignativ? Linden: Die Gründer des Karlspreises hatten kurz nach dem Krieg eine viel schwierigere Situation als wir heute – in einer zerbombten Stadt, mit geschlossenen Schlagbäumen zu den Nachbarn, der Kalte Krieg hatte Europa kontinental in zwei Blöcke geteilt. Heute ist der Großteil der Bevölkerung proeuropäisch eingestellt. Deshalb ist Resignation mit Sicherheit nicht angesagt. BAD AACHEN: Aber anders als 1949/50 wählen heute rund ein Drittel der jungen Menschen rechtsextrem. Das ist gewiss ein Thema für den Karlspreis, wenn man über die Perspektive Europas nachdenkt. Linden: Wenn ich an das Erasmus+Programm oder an Interrail denke, dann sind es vor allem die jungen Leute, die hinsichtlich ihrer Mobilität, ihrer Ausbildung, ihrer Sprachentwicklung stark von Europa profitieren. Ja, es stimmt: Man muss in der Bewusstseinsfrage viel mehr tun, um Überzeugung zu leisten. Wir haben bei der akademischen Jugend ein weniger großes Problem. Die übrige Jugend wird jedoch nicht ausreichend einbezogen. BAD AACHEN: Kann der Karlspreis dazu beitragen, das zu ändern? Linden: Der Jugendkarlspreis ist seit 2008 eine Erfolgsgeschichte. Wir haben inzwischen ein großes Netzwerk bilden können, die jungen Leute korrespondieren auch außerhalb ihres Aufenthalts in Aachen ständig miteinander und entwickeln Aktionen und Projekte. Zusätzlich haben wir die Akademie gegründet, die europäische Zukunftsfragen wie Erweiterung, Luftfahrt oder Wasserbevorratung wissenschaftlich erarbeiten soll. Und wir denken mittelfristig darüber nach, Projekte junger Menschen in Europa direkt zu unterstützen. Der Schwerpunkt ist also sehr auf junge Menschen gerichtet, während der Karlspreis früher eher eine Belobigung für Lebensleistungen war. Davon sind wir ein Stück weit weg. BAD AACHEN: Bei der Gründung wurden besonders die europäischen Werte hervorgehoben. Was ist angesichts von Orbán, Le Pen, Wilders, Meloni, AfD davon in der EU noch geblieben? Linden: 1949 wurde der Wertekanon noch entwickelt. In den Römischen Verträgen von 1957 hat man dann erstmals versucht, einen solchen Kanon festzuschreiben. Die Werte sind schließlich im Gemeinschaftsvertrag festgehalten worden, und die Mitglieder der EU sind daran gebunden. Zugegeben: Das ist zunächst nur Papier. Die Realität, diese Werte zu verteidigen, ist in vielen Ländern eine andere geworden. Das betrifft die Gleichwertigkeit der Menschen und bestimmte Freiheitsrechte, bei denen es Einschränkungen gibt. Man muss dagegen halten! Das EU-Parlament tut das in seiner Mehrheit immer wieder. Und wir tun es auch mit entsprechenden Veranstaltungen und Resolutionen anlässlich des Karlspreises. BAD AACHEN: Der Karlspreis-Gründer Dr. Kurt Pfeiffer formulierte wörtlich, dass der Karlspreis „in der Regel für besondere Leistungen verliehen wird“. Gibt es in Ihrer Erinnerung Fälle, in denen die Regel außer Kraft gesetzt war und jemand den Karlspreis bekam, der ihn gar nicht verdient hatte? Linden: Das will ich nicht beurteilen. Es gab ja öffentliche Kritik an mancher Verleihung. Der Karlspreis ist insgesamt ein Erfolg für Europa. BAD AACHEN: Aha. Gab es denn Fälle, in denen man – salopp gesagt – vergessen hat, würdige Persönlichkeiten auszuzeichnen? Karlspreis 2024: Dr. Jürgen Linden (l.) mit Pinchas Goldschmidt und OB Sibylle Keupen. 75 Jahre Karlspreis zu Aachen 1949 wurde die wichtigste Auszeichnung pro Europa ins Leben gerufen. Seither ist viel passiert und Dr. Jürgen Linden sagt: „Wir haben uns von einem Großteil unseres Idealismus befreien müssen.“ Foto: Stadt Aachen/A. Steindl

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