12/24 BAD AACHEN | 21 Linden: Beispielsweise Willy Brandt, Olof Palme, Mário Soares. Mit dieser Kritik muss man leben, manchmal kann man aus ihr sogar lernen. In den letzten 20, 30 Jahren war es weniger die Lebensleistung, die belobigt worden ist, sondern die Botschaft des Preisträgers, auch in Zukunft Engagement zu zeigen. Das ist sicher auch mal danebengegangen wie bei Gro Harlem Brundtland. Die erhielt den Preis, um das Referendum in Norwegen positiv zu beeinflussen, das wurde leider von den Norwegern nicht so gesehen. BAD AACHEN: 1987 kam es wegen der Verleihung an Henry Kissinger zum offenen Bruch mit SPD und Grünen, die aus Protest das Direktorium verließen. Was hat sich seitdem verändert? Linden: Der Karlspreis heißt seitdem Karlspreis zu Aachen, vorher war er der Karlspreis der Stadt Aachen. Es gibt Veränderungen in der Zusammensetzung des Direktoriums, damals waren es zwölf, inzwischen sind es 19 Mitglieder. Die Besetzung zwischen Gesellschaft und Stadt ist paritätisch. Seit 1989 hat der Karlspreis wahrnehmbar auch den Krönungssaal verlassen und ist nach draußen gegangen: mit dem Rahmenprogramm, dem Open-Air auf dem Katschhof, mit Veranstaltungen außerhalb der Region etwa in Brüssel und Maastricht. BAD AACHEN: Hat sich die Art und Weise der Beratungen im Direktorium verändert? Linden: Wir haben Argumentationspapiere zu jedem einzelnen Kandidaten, wir haben eine Klausur am Ende der Debatte und kommen nicht nur mit der Einzelmeinung zusammen, sondern schauen gemeinsam darauf, was dieser Preis letztlich für Europa und die Stadt bedeutet. BAD AACHEN: Wie ist die Atmosphäre in diesem Direktorium, gibt es Streitgespräche konstruktiver Art oder gibt es auch massive Auseinandersetzungen? Linden: Wir sind politisch heterogen zusammengesetzt. Es sind viele Richtungen, natürlich auch parteilose, vertreten. Und es sind viele Berufsschichten vertreten. Das war früher anders. Von daher gibt es unterschiedliche Auffassungen. Bis auf eine sehr vehemente Auseinandersetzung vor mehr als einem Jahrzehnt kann ich mich nicht erinnern, dass in irgendeiner Form die Sachlichkeit verlassen worden wäre. Wir sind immer um die richtige Entscheidung und am Ende der Klausur um Einmütigkeit bemüht. BAD AACHEN: Bei der Verleihung an Wolodymyr Selenskyj gab es zumindest Diskussionen über den Zeitpunkt der Verleihung mitten in einem Krieg. Wie bewerten Sie das heute? Linden: Selenskyj war nicht nur eine intensive Diskussion, sondern auch ein langwieriges Verfahren bezüglich der Annahme aufgrund der Kriegssituation, der Erreichbarkeit und Ähnlichem. Die Diskussion hat für den Karlspreis gezeigt, dass er sich in seiner europapolitischen Idee von allen Schönfärbereien und zu einem Großteil auch von seinem Idealismus befreien musste, weil die Realität in Europa eine andere geworden war. Die Frage der Wehrtüchtigkeit Europas haben wir gesamtgesellschaftlich jahrzehntelang nicht diskutiert. Das sind Akzente, die die Haltung des Direktoriums berühren. BAD AACHEN: Was bedeutete das konkret bei der Entscheidung für Selenskyj? Linden: Die Entscheidung für Selenskyj, als der Krieg noch in der Anfangsphase war, war ein Zeichen des Karlspreises auch dafür, dass Europa insgesamt wehrfähiger, verteidigungstüchtiger und letztlich aufmerksamer sein muss in Bezug auf denkbare Angriffe, die dieser europäischen Einheit drohen. Es war auch ein Signal für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. STADTHISTORIE BAD AACHEN: Bei Kissinger wurde damals von SPD und Grünen vor allem kritisiert, dass er symbolisch für die NATO stehe… Linden: Klar, aber man darf auch durch Erfahrung seine eigene politische Einstellung verändern, die man dann mit ins Direktorium nimmt. Die Gründe der Veränderung liegen in der Realität. Gerade bei Selenskyj haben wir uns, wie gesagt, von einem Großteil unseres Idealismus befreien müssen. BAD AACHEN: Was macht in der aktuellen Situation die Faszination des Karlspreises noch aus? Linden: Er ist die renommierteste politische Auszeichnung in Europa und für den jeweiligen Preisträger ein Zeichen dafür, dass seine politische Position unterstützt wird. Das nehmen viele sehr dankbar an. Ich kann das so frech behaupten, weil ich derjenige bin, der die Preisträger jeweils persönlich anruft, um sie zu fragen, ob sie den Preis annehmen. BAD AACHEN: Welcher Karlspreisträger oder welche Karlspreisträgerin hat Sie am meisten beeindruckt? Linden: Für mich ist nach wie vor die Verleihung an Václav Havel 1991 eine der außerordentlich beeindruckenden gewesen. Er war die Symbolfigur im Ostblock, die Aachener haben Havel unglaublich gefeiert. Am Vorabend standen mindestens 10000 Menschen auf dem kleinen Platz am Hühnerdieb und jubelten ihm zu. Er war übrigens, als das Rauchen im Rathaus schon verboten war, der einzige, der dort noch rauchen durfte. BLICK ZURÜCK: FESTPROGRAMM 1949 ins Leben gerufen, heißt Aachens wichtigste Auszeichnung in Europa seit 1988 Internationaler Karlspreis zu Aachen. 65 Preisträger wurden bisher ausgezeichnet – Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft, Hoffnungsträger der Erweiterungen, Verantwortliche für Institutionen, Akteure der Wende, Impulsgeber auf kultureller und sozialer Ebene. Richard Nikolaus Graf CoudenhoveKalergi (Foto; 1950), Konrad Adenauer (1954), François Mitterrand und Helmut Kohl (1988), Václav Havel (1991), der amerikanische Präsident Bill Clinton (2000), Bundeskanzlerin Angela Merkel (2008), Papst Franziskus (2016), der französische Staatspräsident Emmanuel Macron (2018) oder UN-Generalsekretär António Guterres (2019) gehörten dazu. Doch der Preis geht heute weiter, er bezieht Stellung. 2022 wurden drei belarussische Aktivistinnen geehrt. Der Karlspreis 2023 ging an Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, 2024 wurde Oberrabiner Pinchas Goldschmidt ausgezeichnet. Zum Karlspreisjubiläum veranstaltet die Stiftung ein umfangreiches Programm, das am 19. Dezember, um 18.30 Uhr mit einem kostenfreien Vortrag von Dr. Jürgen Linden, Vorsitzender des Karlspreisdirektoriums, im SuermondtLudwig-Museum beginnt. Anmeldung via E-Mail an: events@karlspreis.de. Es folgen zahlreiche weitere Veranstaltungen; s. Link. karlspreis.de/de/aktuelles/veranstaltungen Foto: Archiv
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